In Nietzsches Persönlichkeit sind diejenigen Instinkte vorherrschend, die den Menschen zu einem gebietenden, herrischen Wesen machen. Ihm gefällt alles, was Macht bekundet; ihm mißfällt alles, was Schwäche verrät. Er fühlt sich nur so lange glücklich, als er sich in Lebensbedingungen befindet, die seine Kraft erhöhen. Er liebt Hemmnisse, Widerstände für seine Tätigkeit, weil er sich bei ihrer Überwindung seiner Macht bewußt wird. Er sucht die beschwerlichsten Wege auf, die der Mensch gehen kann. Ein Grundzug seines Charakters ist in dem Spruche ausgedrückt, den er der zweiten Ausgabe seiner « Fröhlichen Wissenschaft» auf das Titelblatt gesetzt hat:
«Ich wohne in meinem eignen Haus,
Hab' niemandem nie nichts nachgemacht
Und lachte noch jeden Meister aus,
Der nicht sich selber ausgelacht.»
Jede Art von Unterordnung unter eine fremde Macht empfindet Nietzsche als Schwäche. Und über das, was eine «fremde Macht» ist, denkt er anders als mancher, der sich als «unabhängigen, freien Geist» bezeichnet. Nietzsche empfindet es als Schwäche, wenn der Mensch sich in seinem Denken und Handeln sogenannten «ewigen, ehernen» Gesetzen der Vernunft unterwirft. Was die allseitig entwickelte Persönlichkeit tut, das läßt sie sich von keiner Moralwissenschaft vorschreiben, sondern allein von den Antrieben des eigenen Selbst. Der Mensch ist in dem Augenblicke schon schwach, in dem er nach Gesetzen und Regeln sucht, nach denen er denken und handeln soll.
Der Starke bestimmt die Art seines Denkens und Handelns aus seinem eigenen Wesen heraus.
(Steiner, Rudolf: Friedrich Nietzsche. Ein Kämpfer gegen seine Zeit. S. 15)