22. Juli 2010

Ein Tropfen Rosenwasser

Mir scheint es, alles fängt mit einem Tropfen Rosenwasser an, der auf einen Haufen Asche fällt. Der Tropfen hat die Aufgabe den Haufen zu formen und zu beleben. Die Welt ernährt das lebendige Torso mit Luft, Feuer verleiht ihm Kräfte und Wasser macht ihn handlungsfähig. Das Hammern des Alltags schmiedet ihn, Feuer reinigt, macht flüssig und Wasser stabilisiert jede Form. Ewige Wiederholungen vermögen eine allmähliche Transformation durch Formbildung und Formvernichtung. So bekommt das Geschöpf sein unverwechselbares Aroma, seine spezifische Schönheit und Wirkung. Veredelung ist der größte Erfolg. Die Wirkung besteht darin selbst dem Lebensprozess zu dienen, Funken auszusenden oder selbst den Hammer zu halten.
Bis ein Xoanon daraus geschnitzt und ausgehöhlt wird oder der Brennstoff verbraucht, vergeht ein Zeitalter. Dann kehrt die Asche zur Erde zurück, der Tropfen zum Ozean und ein Samen wird frei. Wenn aber das Rosenwasser austrocknet, bleibt die Hülle als Marionette der mechanischen Welt zurück oder sie dient dem Feuer als Brennstoff.

Bevor etwas im Aussen passiert, muss viel im Verborgenen statt finden.



20. Juli 2010

Die blaue Blume

Ich suche die blaue Blume,
Ich suche und finde sie nie,
Mir träumt, dass in der Blume
Mein gutes Glück mir blüh.

Ich wandre mit meiner Harfe
Durch Länder, Städt und Au'n,
Ob nirgends in der Runde
Die blaue Blume zu schaun.

Ich wandre schon seit lange,
Hab lang gehofft, vertraut,
Doch ach, noch nirgends hab ich
Die blaue Blum geschaut.

- Joseph von Eichendorff, 1818


15. Juli 2010

Fleisch gewordener Geist

ich habs mir gründlich überlegt und bin zu der Erkenntnis gekommen, ein jeder muss in jeglicher Hinsicht Ausdruck einer bestimmten Substanz sein, die verantwortlich für jene Eigenart ist, die jeden auszeichnet. Die Zutaten sind nicht neu, die Zusammensetzung aber doch; die Form des eigenen Körpers, der eigenen Gedanken, der eigenen Ansichten, der eigenen Absichten. Auch jegliche Transformationen, die den Charakter dieser Eigenart verändert, muss aus dem eigenen Potential stammen. Wo bleibt dann die Verantwortung und die Entscheidbarkeit, ausser sich selbst treu zu werden und zu bleiben?

Über die Kürze des Lebens

Die Kunst ist lang, das Leben kurz, die Gelegenheit flüchtig, die Erfahrung trügerisch, Urteil schwierig

- Hippokrates aus Kos

Der größere Teil der sterblichen Menschen, Paulinus, beklagt sich über die Mißgunst der Natur, dass wir nur für eine kurze Lebenszeit geboren werden, und dass so schnell und stürmisch die uns gegebene Lebensfrist abläuft, und zwar so, dass mit Ausnahme weniger das Leben die übrigen bereits bei der Vorbereitung des Lebens im Stich lässt. Und über dieses allgemeine Übel, wie man meint, seufzt nicht nur die große Masse und der unwissende Pöbel.

- Seneca, de brevitate vitae, 1.1

14. Juli 2010

the chariot

Know the Self as lord of the chariot,
The body as the chariot itself,
The discriminating intellect as
The charioteer, and the mind as the reins.
The senses, say the wise, are the horses;
Selfish desires are the roads they travel.
When the Self is confused with the body,
Mind, and senses, they point out, he seems
To enjoy pleasure and suffer sorrow.

- Katha Upanishad

7. Juli 2010

Der Spaziergang

Ὦ ξεῖν’, ἀγγέλλειν Λακεδαιμονίοις ὅτι τῇδε κείμεθα, τοῖς κείνων ῥήμασι πειθόμενοι

- Σιμωνίδης ο Κείος, επίγραμμα στις Θερμοπύλες


"Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl."

- Friedrich Schiller, 1795

6. Juli 2010

der Ort wo nichts ist

Manchmal träume ich von einem Ort, wo nichts passiert. Wenn ich da still hinschaue, dann ist es dort nur Licht, das Licht der Kreide, die alle Bilder gemalt hat oder Dunkelheit. Die Dunkelheit des Bleistifts, der alle Bilder gezeichnet hat. Still, ewig, zeitlos, ja leblos. Wenn ich mich nur ein bisschen rege, dann erscheinen Bilder, Farben, Bewegung, Leben, Ton. Irgendwann sehe ich mich auch darin und ich weiss, dass ich bin. Dann bist du auch. Dieser Ort ist da draußen, ganz weit weg und oben oder ganz tief in mir, hier, wenn ich still bin...

5. Juli 2010

Ergreife die Feder

Ergreife die Feder müde
schreibe deine Gedanken nieder
wenn keine Frage nach Stil dich bedrängt.

Es ist heute wieder vieles zu durchdenken.
Felder liegen brach, die einst Früchte trugen.

Das Mögliche ist ungeheuer. Die Sucht
nach Perfektion
zerstört das meiste. Was bleibt
sind Splitter
an denen sinnlos gefeilt wurde.

Beginne, das Sonnensystem zu sehen.
Liebe
auch Pluto. Doch wer
macht sich schon Gedanken über ihn!
Ich aber
spüre sein Kreisen, ahne
die kleine Kugel, die glattgeschliffene.

Alles läßt sich besser schreiben
Darum laß die schlechtere Fassung
stehn.

Nur beim Weitergehen kommst du irgendwohin
wohin?
Fern von dir.
Gehe weiter. Lots Weib
erstarre beim Zurückschauen.
Erstarrt nicht. Korrigiert nicht.
Wagt!

Höre nie auf andere.
Trachte nicht danach ein gutes Buch zu schreiben.

Mache keinen Plan und wenn du ihn
machst
führe ihn nicht aus.
Der Plan genügt.

Nichts
ist notwendig. Das Spiel
kann jederzeit abgebrochen werden.

Es gibt Sätze die stark machen
doch brauchen sie nicht nieder-
geschrieben zu werden.
Löse deine Hand.
Es kommt nie auf die Sätze an. Nur das
Werk allein zählt.
Die Narren kritisieren einen Satz
Wenige sehen das Ganze.
Gott kann dich verlassen
Gody soll dich verlassen.

- Friedrich Dürrenmatt

Du musst das Leben nicht verstehen

Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.

Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.

- Rainer Maria Rilke, 8.1.1898, Berlin-Wilmersdorf
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